FINANZVIRUS

09.04.2020, 17:00
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FINANZVIRUS

Alexander Potemkin
Doktor der Wirtschaftswissenschaften

Vor dem Hintergrund der offiziellen Coronavirus-Pandemie bemerkt niemand, dass die russische Wirtschaft seit mehreren Jahren von einer weiteren schrecklichen Epidemie erfasst wird - der wirtschaftlichen Pandemie, verursacht durch das Finanzvirus.

Finanzvirus ist ein infektiöses Agens der Geldpolitik der Zentralbank der Russischen Föderation, das mit Hilfe des Bankensektors in den lebenden Organismus des Wirtschaftssystems eines Staates eindringt.

Infolgedessen fügte das Virus der Realwirtschaft und der natürlichen Ressource, dem Humankapital, lebensbedrohliche Schäden zu. Heute sprechen wir nicht nur über die Gewinneinbußen, sondern auch über den Verlust von Millionen Arbeitsplätzen und den Bankrott von Tausenden Unternehmen. Unter den Bedingungen des Rückgangs des Einnahmeteils des föderalen und regionalen Haushalts (aufgrund des Rückgangs der Ölpreise, der Maßnahmen zur Unterstützung des Rubelkurses sowie mangelnder Handels- und Produktionsumsätze) werden die staatlichen Machtorgane vor die Wahl gestellt, wer in erster Linie unterstützt werden soll: das Geschäft oder die Bevölkerung.

Russlands Regierungschef erklärte, dass für die Umsetzung von Maßnahmen zur Krisen- und Coronavirusbekämpfung 1,4 Billionen Rubel im Haushalt reserviert seien.

Wie viel Geld wird für den Nährboden der Finanzvirusausbreitung - Zahlungen der Personalkosten des Banksektors (442 Kreditinstitute (ohne Zentralbank, Mikrofinanzinstitute usw.)) - jährlich für die Wirtschaft des Landes und die persönliche „Tasche“ der Steuerzahler aufgebracht?

Es ist bekannt, dass die Einnahmen des Banksektors hauptsächlich durch hohe Margen gebildet werden, also durch die Differenz zwischen den Zinsen für Fremdmittel und den Zinsen für vergebene Kredite, durch die Provisionserträge sowie Erträge aus Finanztransaktionen. All das zielt dabei darauf ab, das Einkommen des Bankmanagements zu maximieren und die Mitarbeiter des Bankensektors zu unterhalten.

Gibt es überhaupt einen Virologen, der gegen die Geldpolitik der Zentralbank von E. Nabiullina und des gesamten Bankensystems des Landes ankämpfen kann?

Nach Angaben der Zentralbank der Russischen Föderation besteht das Ziel der Geldpolitik der Bank von Russland darin, die jährliche Inflationsrate bei 4 % zu halten. Das wichtigste geldpolitische Instrument der Bank von Russland ist der Leitzins. Durch die Änderung des Leitzinses beeinflusst die Bank von Russland die Zinsentwicklung in der Wirtschaft, was sich wiederum auf die Binnennachfrage und die Inflation auswirkt.

Die Leitzinsentscheidung basiert auf der makroökonomischen Prognose im Rahmen einer Prognoserunde. Die Runde bringt Analysten und Experten aus verschiedenen Strukturen der Bank von Russland zusammen. Breiter Teilnehmerkreis der Prognoserunde bietet einen umfassenden Überblick über die russische und weltweite Wirtschaft sowie über die Varianten für ihre weitere Entwicklung. Der Verwaltungsrat der Bank von Russland legt achtmal im Jahr unter Beteiligung des Ministers für wirtschaftliche Entwicklung und des Finanzministers bzw. ihrer Stellvertreter das Leitzinsniveau fest. Dabei beraten sie sich im Voraus mit der Regierung und entscheiden so jahrelang über das Schicksal der Nationalwirtschaft und das Wohlergehen der Bevölkerung.

Der Leitzins in Russland ist somit der Mindestzinssatz, zu dem die Zentralbank eine Woche lang Kredite an Geschäftsbanken vergibt. Der Leitzins zeigt den Höchstzinssatz an, zu dem die Zentralbank der Russischen Föderation Mittel von Geschäftsbanken als Depositum annimmt. Der Leitzins spielt eine entscheidende Rolle für das Bankensystem bei der Bestimmung der Zinssätze für Bankkredite und Depositen für juristische und natürliche Personen.

Woraus ergibt sich der Wert des Leitzinses?

Nominalleitzins = „neutraler“ Realzins + erwartete Inflation.

„Neutraler“ Realzins wird durch die Struktur der Wirtschaft und viele Faktoren bestimmt. Seine Schätzung ist in der Regel eher vage. Zinssatzschätzung hängt von einer Vielzahl von Gründen und ändert sich im Laufe der Zeit. Man unterscheidet zwischen langfristigem (longer-run neutral rate, trend interest rate) und kurzfristigem (shorter-run neutral rate) neutralen Zinssatz. Die Berechnung des kurzfristigen neutralen Zinssatzes ist problematisch, selbst bei Wirtschaften mit einer längeren Geschichte des Regimes des Inflations Targetings als in der Russischen Föderation. Zentralbanken wie die Bank of England (2018) und Brainard (2018) quantifizieren diesen Indikator nicht. Das Niveau des kurzfristigen „neutralen“ Realzinses hat erhebliche Auswirkungen auf den aktuellen Wert des Leitzinses, kann aber sowohl über, als auch unter dem langfristigen Zinssatz liegen.

Die Quantifizierung des Niveaus des langfristigen neutralen Realzinses für Russland wird im Intervall von 2-3 % definiert. Das Konzept des „neutralen“ Zinssatzes ist ein praktisches Werkzeug, um die Entscheidungen der Zentralbank in Bezug auf den Grad der Härte der angewandten Geldpolitik zu erklären. Die Ungewissheit bezüglich der Schätzungen des Zinssatzniveaus weist selbst in Industrieländern auf die hohen Fehlerkosten hin. Die Zentralbank ist sehr erfahren im Bereich der Schätzungen des neutralen Zinssatzes. Sie sollte sie kritisch betrachten und mit einer Vielzahl anderer Faktoren und ihrer Dynamik korrelieren, die die monetären Bedingungen in der Wirtschaft charakterisieren.

Die Zentralbank behauptet, dass der hohe Wert des Leitzinses auf die Inflation zurückzuführen sei.

Das Inflationsziel der Zentralbank liegt bei 4 %;

Die tatsächliche Inflation für das Jahr 2019 lag jedoch bei 3 %; für März 2020 bei 2,5 %.

Fehler in den Inflationsprognosen der Zentralbank, wie zum Beispiel für das Ende des Jahres 2019 mit einer Inflationsrate von 5,5 %, lassen keine Senkung des Leitzinses zu und sind für Endverbraucher teuer. Bei der Wertbildung der Waren und Dienstleistungen berücksichtigen die Hersteller die prognostizierten Werte der Inflationserwartungen.

Die Zentralbank wählt den Verbraucherpreisindex als Hauptindikator für die Inflation. Er misst zeitlich den Wert des „Verbraucherkorbs“, der mehr als 500 Arten von Waren und Dienstleistungen umfasst. Der Satz ist nicht universell für verschiedene Bevölkerungsgruppen, enthält keine vollständige Liste der Dienstleistungen, hängt von der Saisonalität ab.

Warum wird nicht der Basis-Verbraucherpreisindex (BVPI) verwendet, der ungleichmäßige Preisänderungen unter dem Einfluss bestimmter administrativer, eventueller und saisonaler Faktoren ausschließt?

In ihrem Bemühen, die Inflation zu senken, erklärt die Zentralbank die Notwendigkeit, die Preisstabilität zur Verbesserung des Investitionsklima aufrechtzuerhalten.

Die Zentralbank wirkt sich jedoch durch die Regulierung der Bankzinspolitik direkt auf das Inflationswachstum aus und schränkt eigenständig die Investitionen ein, da diese mit dem teuren geliehenen Geld nicht effizient und gefragt sein können.

Die Zentralbank würde die Inflation überwinden, wenn sie Kredite zu denselben Zinssätzen vergeben würde, die sie durch die Anlage von Fremdwährungen auf Depositen ausländischer Banken oder durch den Kauf von Schatzpapieren anderer Staaten erhält - die durchschnittliche Rendite für mehrere Jahre übersteigt 1,5 % bis 2 % pro Jahr nicht. Optimale Leitzinsgröße für die Wirtschaft wäre ein Wert von 2 bis 2,5 % pro Jahr.

Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz ist der Ansicht, dass die Zinssatzerhöhung nicht als universeller Mechanismus zur Bekämpfung der Inflation angesehen werden kann, ohne dass man sich dabei nach den grundlegenden Ursachen dieser fragt. „Es bleibt zu hoffen, dass die meisten Länder klug genug sein werden, um kein Inflation Targeting einzuführen. Ich habe Mitleid mit den unglücklichen Bürgern jener Staaten, deren Banken es dennoch einführen.“

Meiner Meinung nach und nach Einschätzung von Experten ist die Inflation selbst bei 10-15 % im Intervall von fünf Jahren bei einem rasanten Anstieg der Investitions- und Kreditaktivität zu konzessionären Bedingungen mit der Indexierung der Gehälter, Renten und Sozialeislungen nicht verheerend. In diesen fünf Jahren wird es zum Inflationsrückgang kommen. Es werden neue Waren auf dem Markt erscheinen und die Steuerabführungen aus der Realwirtschaftstätigkeit werden zunehmen.

Inflation ist die fehlende Deckung einer Geldmenge mit Waren.

In Echtzeit kann unter sinkenden Produktionsbedingungen und mangelndem Zugang zu den erforderlichen Investitionen der Inflationsrückgang nur erreicht werden, wenn die Einkommen der Bevölkerung gesenkt werden, was bedeutet, dass die Krisensituation verschärft, die Wirtschaft vollständig zerstört und der Lebensstandard erneut gesenkt wird. Es ist notwendig, die Wirtschaft zumindest zu unterstützen und dann das Wirtschaftswachstum zu gewährleisten.

Zu diesem Zweck wird die Senkung des Leitzinsniveaus zu einer Senkung der Zinssätze für Bankkredite und damit zu einer Wertminderung der Geldmenge für den realen Wirtschaftssektor führen. Gleichzeitig sollte der Bankensektor seine Rentabilität verringern und die Bruttomarge von 180 % auf 40 % senken.

Effektiver Zinssatz kann nicht mehr als die Hälfte der Rentabilität der Wirtschaft betragen. Laut Föderalem Dienst für Staatliche Statistik (Rosstat) beträgt er in der Russischen Föderation aber nicht mehr als 10 %. Der Kreditsatz sollte also nicht höher als 5 % sein.

Die Hauptaufgabe der Zentralbank ist die Gewährleistung der Währungsstabilität. Dies ist eine weltweite Anforderung an die Geldbehörden: Währungsstabilität ist eine Voraussetzung für Investitionswachstum, Geschäftsplanung und niedrige Inflation. Währungsschwankungen beeinflussen den Wirtschaftsprozess. Der Rubel fällt, die Preise steigen, Importe werden automatisch teurer. Der Rubel steigt, die Preise sinken aber nicht. Die Zentralbank lehnte das „Rubel Targeting“ ab, was zur Entstehung neuer Inflationswellen und zur Entwertung des Rubelkurses beiträgt. Dies erfordert aber die Ergreifung von Maßnahmen und die Änderung der Arbeit des nationalen Handelssystems, indem die Preise für Waren zum Rubelkurs indexiert werden. Dann wird man sich keine Fragen darüber stellen, warum der Kraftstoffpreis für den Binnenmarkt angesichts des weltweiten Ölpreisrückgangs nicht fällt. Es wird auch möglich sein, die Preise für Waren einer sozial bedeutenden Gruppe während der Pandemie aufrechtzuerhalten.

Die Zentralbank verwendet hohe Leitzinsen für Währungsspekulationen. Der Rubel ist zu einem Objekt für den sogenannten Carry Trade geworden - ein Spiel um Obligationen und Zinssatzdifferenzen. Unter Berücksichtigung des großen Carry-Trade-Volumens bereichern sich die gebietsfremden Spekulanten aufgrund des hohen Rubelkurses für russische Obligationen, und der russischen Wirtschaft werden erschwingliche, rentable Kredite vorenthalten.

Die Freigabe des Rubels ins freie Floaten durch die Zentralbank und das Fehlen jeglicher Beschränkungen des grenzüberschreitenden Kapitalflusses führten zum Verlust der Kontrolle über den Devisen- und Finanzmarkt, der im Laufe mehrerer Jahre von Spekulanten manipuliert wird, um Supergewinne zu erzielen. Nicht Angebot und Nachfrage, nicht Bullen und Bären, sondern Finanzarbeiten definieren entsprechend den Handlungen, diedurch Algorithmen von „jemandem“ bestimmt werden, die Preise und Kurse auf dem modernen Devisen- und Finanzmarkt.

Wie ein Krebsgeschwür entfernt die Zentralbank die Geldmenge aus dem realen Wirtschaftssektor. Der Wissenschafts- und Produktionssektor der Nationalwirtschaft wurden lahmgelegt, die Kluft zwischen Arm und Reich im Land wurde noch größer.

Die Steuerung der Inflation zu freien Preisen, Zöllen, unkontrollierter Währungsregulierung und freiem Floaten des Rubelkurses ist unmöglich. Die Wirtschaft des Landes ist unkontrollierbar geworden. Jede Aussage über die Erhöhung der Löhne der Angestellten im aus dem Haushalt finanzierten Sektor und die Indexierung der Renten zieht eine Erhöhung der Preise in den Geschäften bereits am nächsten Tag nach sich. Zum Zeitpunkt des Erhalts der erhöhten Zahlungen verliert die Bevölkerung bereits einen Teil ihrer bisherigen Gehälter, ganz zu schweigen von dem Gehaltswachstum.

In den letzten Jahren hat die Zentralbank eine eigene, unabhängige Oase geschaffen - Russland+. Hohes Niveau des Leitzinses benötigt die Zentralbank nur für ihre eigene Unterhaltung: Im Jahr 2018 sind es 375 Unterabteilungen mit 47 910 Mitarbeitern und mit jährlichen Bankmitarbeiterkosten in Höhe von 114 Milliarden Rubel (1,52 Milliarden Euro). Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Zentralbank in Deutschland beispielsweise 11 604 Mitarbeiter hat, in England sind es 4 368 Mitarbeiter, in Kanada 1 750, in den USA 19 506. Und das Vermögen dieser Banken ist zehn-, hundertmal größer als das der Zentralbank der Russischen Föderation, und die Budgets für die Personalkosten sind viel niedriger (in Deutschland - 849 Millionen Euro, in England - 519 Millionen US-Dollar, in Kanada - 276,1 Millionen US-Dollar).

Darüber hinaus besitzt die Zentralbank: 13 Sanatoriums- und Kureinrichtungen, darunter gesundheitsfördernde Verbände, Pensionen, Freizeitzentren und Nachtsanatorien; eigenes Gastronomiekombinat; multidisziplinäres medizinisches Zentrum und andere Dienstleistungsbetriebe mit rücksichtslosen Ausgaben für den Kauf einer Pfanne für 1,8 Millionen Rubel (24 000 Euro), der 300 intradermalen Implantate der Marke Juvederm für die Gesichts- und Lippenkonturplastik für 2,2 Millionen Rubel (24 000 Euro), eines Hydromassagebades Thermo-Spa-Concerto für 4,7 Millionen Rubel (62 600 Euro), einer Wasserschaukel für 1,2 Millionen Rubel (16 800 Euro) usw.

Und das in einem Land, in dem der Mindestlohn 150 Euro beträgt?!

Was ist nun mit den Verlusten der Zentralbank aus der Tätigkeit für mehrere Jahre, einschließlich solcher, die sich aus der Tätigkeit zur Beschaffung von Mitteln für Auktionsdepositen und hochverzinsliche Obligationen? Machen Sie sich keine Sorgen! Die Deckung der Verluste wird vor dem Hintergrund der Pandemie durch ein „plötzliches“ Verkaufsgeschäft von Aktien der Sberbank an die Regierung geschehen.

Wenn gesetzliche Regelungen die Handlungen der Regierung darin beschränken, eine optimale Finanzpolitik zu führen, Antikrisenmaßnahmen zur Unterstützung der Bevölkerung und des Geschäfts unter den Bedingungen der Pandemie und des Finanzvirus zu ergreifen, dann muss die Gesetzgebung überarbeitet werden, um den Abbruch der Beziehungen zwischen Regierung und Bevölkerung zu verhindern.

Aus der Geschichte: In den USA hat sich unter F.D. Roosevelt eine schwierige Situation entwickelt. Er hat dringende Maßnahmen zur Rettung der Wirtschaft und „Gesundung“ der Banken ergriffen (und die Banken über Nacht mit der notwendigen Geldmenge versorgt). Da er erkannte, dass das Bankensystem ein Schlüsselproblem bei der Durchführung von Reformen darstellt, verschloss er die Kanäle der Spekulation mit Einlagen der Bevölkerung, unterband die Möglichkeit einer ungerechtfertigten US-Kapitalflucht ins Ausland und stellte das Vertrauen der Öffentlichkeit in das US-Bankensystem wieder her.

Hoffentlich werden der russische Präsident und der Vorsitzende der Regierung im gegenwärtigen schwierigen Moment der Geschichte des Landes die Angelegenheit trotz der negativen Maßnahmen des Bankensektors und der Zentralbank der Russischen Föderation selbst in die Hand nehmen.

Die europäische und die Weltgemeinschaft sind beunruhigt über das Finanzvirus in Russland - ein mächtiges Atomland ohne Wirtschaft gibt Anlass zur Sorge.

In den 1920-21er Jahren war einer der wichtigsten Slogans im ganzen Land:

RELIGION IST DAS OPIUM DES VOLKS.

In den 2020-21er Jahren wird der Slogan wahrscheinlich folgender werden:

GELDPOLITIK DER RUSSISCHEN FÖDERATION IST DAS RAUSCHGIFT FÜR DIE WIRTSCHAFT UND DAS VOLK.

Potemkin Alexander

Cofounder of the planetary environmental Hamburg Club, Hamburg

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